Wie beschaulich es in der kleinsten Stadt von NRW zugeht, ahnt schon, wer in Düren in die Rurtalbahn steigt. Der Zug, nicht länger als eine Straßenbahn, zockelt gemütlich über das einzige Gleis, hupt vor unbeschrankten Bahnübergängen, bald sieht man nur noch die Berge und Bäume der Eifel. Nach einer Dreiviertelstunde ist die Endstation erreicht: Heimbach.
Am Bahnsteig wartet an diesem Morgen Bürgermeister Jochen Weiler, 52, von der CDU. Zu hellblauem Hemd und dunkelblauer Hose trägt er weiße Sneaker. 2020 wurde der studierte Rechtsanwalt zum Bürgermeister gewählt, mit 42 Stimmen Vorsprung. Seitdem ist es sein Beruf, eine Stadt zu regieren, die eigentlich ein Dorf ist. Wie macht man das?
Keine Kommune in NRW hat weniger Einwohner als Heimbach. 4365 waren es zum 31. Dezember 2022, 35 weniger als Dahlem, das ebenfalls zur Eifel gehört. Heimbach, Kreis Düren, liegt 50 Kilometer von Aachen entfernt und 50 Kilometer von Köln. Ein Luftkurort mit sieben Stadtteilen, die so weit auseinanderliegen, dass sie Dörfer für sich sind. Heimbach- City ist zwar das mit der höchsten Bevölkerung, aber im Grunde nur eine lange Straße. Dafür gibt es zahlreiche Gaststätten und Cafés, Fachwerkhäuser, eine Burg, Ärzte, eine Apotheke, die Rur fließt vorbei. Idyllisch, aber nicht pittoresk. Der Tourismus ist die wichtigste Einnahmequelle. Heimbach hat knapp 1400 Betten und 260.000 Übernachtungen im Jahr, sagt Bürgermeister Weiler. Gegen 12 Uhr trifft er im Verwaltungsgebäude seine Fachbereichsleiter, sozusagen sein Kabinett. Eigentlich wären sie zu sechst, aber Erich Schmidt, Stabsstelle Stadtentwicklung, Kultur und Tourismus, muss Schüler herumführen, weil jemand ausgefallen ist. Eine größere Stadt hätte deutlich mehr Führungskräfte in der Verwaltung, aber hier muss zusammengelegt werden. Deshalb kümmert sich Benedikt Marx um zentrale Dienste, Bildung, außerdem ums Personalwesen. Simon Merget ist für Finanzen, Liegenschaften und Forsten verantwortlich, Frank Pick für Planen, Bauen und Umwelt, Sven Pütz für Sicherheit und Soziales.
Alle sprechen hier einen rheinischen Singsang, bloß Weiler, aufgewachsen in Köln, lässt sich seine Herkunft nicht anmerken. Sie sitzen im größten Raum des
Gebäudes, heute Abend wird hier noch die Ratssitzung stattfinden. An der Wand
hängen der gekreuzigte Jesus und das Stadtwappen. Erstes Thema: Vorstellungsgespräche. 55 Mitarbeiter hat die Stadt Heimbach, 25 davon in der Verwaltung. Weiler sagt: „Wenn man nur Hundesteuer mit dem Nachnamen A bis K machen möchte, ist man hier nicht gut aufgehoben.“ Ein Bewerber hat sich für die Stadt Köln ausschließlich um die Spielplätze gekümmert, mehrere hundert. „Wir haben vielleicht sieben“, sagt Frank Pick vom Bauamt. „In Heimbach kann es sein, dass der morgens Bestattungen, mittags Spielplätze und nachmittags Denkmalschutz macht.“ Ein paar Aufgaben übernimmt der Kreis Düren, das Jugendamt zum Beispiel oder die Baugenehmigungen. „Aber wir müssen mehr oder weniger den gleichen Aufgabenkreis bestreiten wie die Stadt Köln“, sagt Marx. Dazu gehört es auch, Geflüchtete aufzunehmen. 168 haben sie laut Weiler untergebracht, 40 Prozent davon aus der Ukraine. Bisher haben sie keinen Container benötigt oder eine Turnhalle belegt, dafür aber Wohnungen und Häuser gemietet. „Voraussichtlich kommen in den nächsten Wochen noch zehn bis fünfzehn Personen, das hat man uns schon angekündigt“, sagt Weiler. Ein Mitarbeiter, eigentlich fürs Gebäudemanagement zuständig, kümmert sich auch um die Integration. Er kommt aus der Entwicklungshilfe, war in Afrika, spricht mehrere Sprachen. „Bisher ist die Bevölkerung positiv eingestellt“, sagt Weiler. „Aber wir müssen uns wirklich Gedanken machen: Wie kriegen wir die Leute unter?“ Gute Nachrichten bringt Kämmerer Merget. Der Kreis habe per Mail seine Zustimmung zum Haushalt 2023 erteilt. Nach vielen Jahren im Haushaltssicherungskonzept ist dies das letzte Mal. 21 Millionen Euro umfasst der Haushalt, wovon rund sieben Millionen auf den Wiederaufbau nach dem Hochwasser 2021 fallen. Die kommen vom Land NRW. Der Haushalt einer Kommune lässt nicht viel Platz zum Träumen. Weiler sagt, lediglich rund 400.000 Euro seien nicht für Pflichtaufgaben vorgesehen. Viele Möglichkeiten zu wachsen und damit die Einnahmen zu steigern, hat Heimbach nicht. Sowohl was das Gewerbe als auch die Einwohnerzahl betrifft, man ist umgeben von Naturschutzgebieten. Die Natur, die die Touristen lockt, begrenzt Heimbach an anderer Stelle. Weil die Stadt so vieles nicht stemmen kann, spielt hier das Ehrenamt eine besonders wichtige Rolle. Sogar einige Grünanlagen werden von Rentnern gepflegt. Als im Frühjahr der Hausmeister der Grundschule starb, waren im Heimbach-Journal gleich vier Todesanzeigen abgedruckt. Eine der Grundschule, eine der Stadt, weil der Mann für städtische Gebäude verantwortlich war, eine vom Bürgerbusverein, weil er den Bus fuhr und eine vom Chor, weil er dort mitsang. Nach der Besprechung fährt der Bürgermeister mit dem Reporter in die Berge,
vorbei an einigen Windkraftanlagen. Zwei Windkraftparks mit elf Windrädern stehen in Heimbach, bald werden die elf durch sieben neue ersetzt, die teilweise doppelt so hoch sind, bis zu 200 Meter. Dagegen gibt es Protest. Immerhin hat die Stadt in Verhandlungen erreicht, dass einige Anlagen nicht ganz so hoch werden. Zum kleineren Windkraftpark gibt es für die Ratssitzung am Abend eine Vorlage der Stadt, in der steht: „Die Verwaltung sieht keine Möglichkeit, das Vorhaben dauerhaft zu verhindern. Daher wird die Erteilung des Einvernehmens empfohlen.“ Weiler ist einerseits Bürgermeister einer Kommune, die vom Tourismus lebt, andererseits auch dafür verantwortlich, dass Heimbach seinen Teil zur Energiewende beiträgt. „Natürlich müssen wir gucken, wie wir von den fossilen Brennstoffen loskommen, aber auch berücksichtigen, dass gerade die ländliche Bevölkerung mit diesen Windrädern konfrontiert wird.“ Das Thema Windkraft wird in Großstädten vorangetrieben, aber auf dem Land umgesetzt. Weiler habe zu seiner Tochter, die den Grünen nahestehe, gesagt, man kann Gutes wollen, muss aber den Großteil der Bevölkerung mitnehmen. Sonst laufe man Gefahr, dass Leute an die Macht kommen, die einem das Blaue vom Himmel versprechen. Damit sei nichts erreicht. Einige Stunden später, um 19 Uhr, eröffnet Weiler die Ratssitzung. Als Bürgermeister übernimmt er die Leitung. Er trägt jetzt weißes Hemd, schwarze Hose und Lederschuhe. Der Rat ist so was wie die kleinste Zelle der Demokratie. Man sollte sich so ein Stadtparlament nicht wie den Bundestag vorstellen, allein weil im Rat von Heimbach 20 Personen plus Bürgermeister sitzen.
Es gibt keine Showkämpfe – bis auf den Redakteur der Lokalzeitung berichtet ohnehin niemand – und keine ständigen Diskussionen. Schließlich sitzen alle im selben Boot und müssen damit zurechtkommen, was einem Bund und Land so alles aufdrücken. „Am Ende des Tages kommt man miteinander klar“, erklärt ein paar Tage später Matthias Dürbaum, Fraktionsvorsitzender der SPD. Weiler ist schon deshalb auf die Mitglieder der anderen Parteien angewiesen, weil seiner CDU eine Stimme zur absoluten Mehrheit fehlt. Eine Koalition gibt es nicht. Für Tagesordnungspunkt 2 geht mehr als eine Stunde drauf. Die Bezirksregierung hatte Fördergelder für eine Begegnungsstätte genehmigt. Diese wird nun doch nicht errichtet. Was also mit dem Geld machen? Ein externer Städteplaner stellt mehrere Projekte vor, einen Bürgerpark, einen Umbau des Bahnhofsvorplatzes, damit der Wenderadius endlich groß genug wird für den Fahrradbus. Auf Außenstehende wirkt die Diskussion zäh, aber sie sei wichtig, wird der Bürgermeister später erklären, damit sich jeder auf denselben Wissensstand bringen könne. Später läuft es zügiger. Die Beschränkung der Burg-Beleuchtung wird beschlossen, das Einvernehmen in Sachen Windkraftpark, eine neue Heimbach- App. Gegen halb elf wird die Sitzung geschlossen. Mit dem Zug könnte man Heimbach nun nicht mehr verlassen. Der letzte fährt um 21 Uhr 17.